Mittwoch, 4. November 2009

Anfragen an die Befreiungstheologie in Europa

Vor einem befreiungstheologischen Publikum wäre es wahrscheinlich peinlich, jedenfalls aber riskant, mit den Grundfragen der Theologie der Befreiung anzukommen und ernsthaft in die Runde zu fragen:
Befreiung - wovon?
Befreiung - wozu?
Wer sich heute nach der Rolle der Theologie der Befreiung in Europa frägt, muss zwangsläufig feststellen: Zwar ist der proklamierte Tod der Theologie der Befreiung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ausgeblieben, aber er scheint jetzt zu kommen, unmittelbar nachdem die Finanz- und Wirtschaftskrise allen KritikerInnen von Neoliberalismus und Globalisierung ein vorübergehendes Hoch beschert hatte. Es scheinen nun wiederum genau jene politischen Kräfte im Aufwind zu sein, deren Hauptanliegen es ist, den Urhebern der Krise freie Hand zu lassen und neues Kapital zu sichern. Möglicherweise war diese Krise doch nicht so final, wie es Leonardo Boff konstatiert hat, oder wir bezahlen heute alle dafür, dass diese Finalität noch ein bisschen hinausgezögert wird. In jedem Fall scheint das kurze Zeitfenster, während dessen im öffentlichen Diskurs Raum für Ansätze von Globalisierungskritik, Befreiungstheologie, Schöpfungsverantwortung und andere grundlegende Sozialfragen war offenkundig zu kurz, um nachhaltig Themen darin zu platzieren.

Grundsatzfragen gefragt!

Das wirft die Befreiungstheologie natürlich auf die Frage nach der Positionierung während und nach der Krise. Die Fragen nach dem Ursprünglichen, nach dem Grundsätzlichen einer Denkrichtung sollen immer ihren Raum haben - sie nehmen die Rolle des Stachels im Fleisch ein, an den man sich zwar bisweilen gewöhnen kann, der sich dann aber immer wieder schmerzlich in Erinnerung ruft und vor dem Abgleiten in den Fundamentalismus schützen will.

Wozu also Befreiung? Einige vielleicht fatalistisch-oberflächliche Gedanken dazu:
Es geht um die Armen - Jon Sobrino bringt das immer wieder in Abwandlung einer auf Cyprian von Karthago zurückgehenden Formel zum Ausdruck: extra pauperes nulla salus.
Ethische Spitzfindigkeiten wie die Frage danach, wer die Armen befreit (wir? sie selbst? Gott? alle zusammen?) will ich einmal bei Seite lassen und direkt auf das Ziel der Befreiung kommen:
Wenn es um die Befreiung für die Armen geht, dann müssen wir uns die Frage erlauben - wenn die Armen befreit sind von den Sorgen der Armut, der Unterdrückung, der Ausbeutung ... was erwartet diese Menschen dann? Doch wohl nicht neue Sorgen: Die Sorge um den Besitz, Sorge um das Eigentum? Könnte man womöglich sogar zynisch (und wie gesagt oberflächlich-fatalistisch) der europäischen Befreiungstheologie nicht vorwerfen, nur ihre eigenen Sorgen in die Welt der Armen exportieren zu wollen?
Hab ich mein Auto zugesperrt, wo ist meine Geldbörse, warum sind die Zinsen so niedrig, ist mein Fahrrad gut angekettet oder sieht es klapprig genug aus, sodass niemand es stehlen würde, komme ich auch pünktlich zur Arbeit, wird das Finanzamt auf meinen Nebenverdienst stoßen, was denken meine Kollegen über mich, werde ich beruflich weiterkommen oder werde ich dazu einen Zahnersatz brauchen?
Diese Fragen erinnern an die Geschichte vom Manager und vom Fischer, die im Internet kursiert:

Ein New Yorker Börsenmakler stand in einem kleinen mexikanischen Fischerdorf am Pier und beobachtete, wie ein kleines Fischerboot mit einem Fischer an Bord anlegte. Er hatte einige riesige Thunfische geladen. Der Amerikaner gratulierte dem Mexikaner zu seinem prächtigen Fang und fragte wie lange er dazu gebraucht hatte. Der Mexikaner antwortete: “Ein paar Stunden nur. Nicht lange.” Daraufhin fragte der Manager, warum er denn nicht länger auf See geblieben ist, um noch mehr zu fangen. Der Fischer sagte, die Fische reichen ihm, um seine Familie die nächsten Tage zu versorgen. Der Makler wiederum fragte: “Aber was tun sie denn mit dem Rest des Tages?” Der mexikanische Fischer erklärte: “Ich schlafe morgens aus, gehe ein bisschen fischen, spiele mit meinen Kindern, mache mit meiner Frau Maria nach dem Mittagessen eine Siesta, gehe in das Dorf spazieren, trinke dort ein Gläschen Wein und spiele Gitarre mit meinen Freunden. Sie sehen, ich habe ein ausgefülltes Leben.”
Der New Yorker erklärte: “Ich bin ein Harvard Absolvent und verdiene eine Menge Geld darin, Leute zu beraten. Ihnen helfe ich gerne kostenlos weiter. Sie sollten mehr Zeit mit Fischen verbringen und von dem Erlös ein größeres Boot kaufen. Mit dem Erlös hiervon wiederum könnten sie mehrere Boote kaufen, bis sie eine ganze Flotte haben. Statt den Fang an einen Händler zu verkaufen, könnten sie direkt an eine Fischfabrik verkaufen und schließlich eine eigene Fischverarbeitungsfabrik eröffnen. Sie könnten Produktion, Verarbeitung und Vertrieb selbst kontrollieren. Sie könnten dann dieses kleine Fischerdorf verlassen und nach Mexiko City oder Los Angeles und vielleicht sogar New York umziehen, von wo aus sie dann ihr florierendes Unternehmen leiten.”
Der Mexikaner hatte aufmerksam und schweigend zugehört: “Und wie lange wird dies dauern?” – “Hmmm…”, überlegte der Manager, “So etwa 15 bis 20 Jahre.” Der Mexikaner fragte: “Und was dann, mein Herr?”

Der Amerikaner lachte und sagte: “Dann kommt das Beste. Wenn die Zeit reif ist, könnten sie mit Ihrem Unternehmen an die Börse gehen, Ihre Unternehmensteile verkaufen und sehr reich werden. Sie könnten Millionen verdienen.” Der Fischer schüttelte unglaubwürdig den Kopf. “Millionen? … Und was dann?”

“Dann könnten sie aufhören zu arbeiten! Sie könnten in ein kleines Fischerdorf an der Küste ziehen, morgens lange ausschlafen, ein bisschen fischen gehen, mit Ihren Kindern spielen, eine Siesta mit Ihrer Frau machen, in das Dorf spazieren gehen, am Abend ein Gläschen Wein genießen und mit Ihren Freunden Gitarre spielen.”
(http://www.andersdenken.at/story-und-was-dann/)
Diese Geschichte liefert vielleicht einen Anhaltspunkt zum Weiterdenken, aber es ist jetzt nicht mein Ziel, diese Fragen zu beantworten. Das könnte ich wahrscheinlich auch garnicht. Darüber nachzudenken und zu diskutieren halte ich allerdings für unerlässlich, denn eine Idee, die aufhört, sich selbst zu hinterfragen, verkommt unweigerlich zur Ideologie.

Aufgabe der Befreiungstheologie heute?

Es wird niemand bestreiten, dass es immer Aufgabe der Theologie der Befreiung sein wird, bei den Armen zu sein. Es wird aber immer wieder auch notwendig sein, das Ziel dieses Beisammenseins zu hinterfragen und fallweise auch neu zu bestimmen. Dabei will ich garnicht auf die hinlänglich bekannten Gefahren von Paternalismus, Exotismus und anderen Formen wohltätiger Selbstbefriedigung eingehen, obwohl auch die immer wieder zur Diskussion gestellt werden sollten.
Vielmehr stellt sich die Frage, was heutige Ziele der Befreiungstheologie sein können, sollen, müssen - oder systematischer: worin aus heutiger Sicht ein Programm der Theologie der Befreiung bestehen könnte.
  • Ob die Befreiung von der Armut im wirtschaftlichen Sinn ein solches Ziel sein kann (bzw. jemals war) ist mehr als fraglich: Strukturell organisierte, eingespielte und festgefahrene Ausbeutung kann und will vermutlich niemand hinnehmen, dem Theologie der Befreiung ein Anliegen ist. Teils haben sich die Formen von Unterdrückung verändert - teils auch wiederum nicht. Ausbeutung passiert immer noch, in manchen Bereichen haben nur die Ausbeuter ihr Verhältnis zur Politik neu geordnet - die Ausbeuter aus der Wirtschaft haben die Ausbeuter und Unterdrücker aus der Politik teilweise abgelöst, teilweise diese selbst unterjocht.
  • Das nordamerikanische Christentum, das sich durch seine Selbstkommodifizierungstendenzen aus unserer Sicht zum Komplizen des Neoliberalismus gemacht hat, dringt vor allem mit der gezielten Jenseitsvertröstung erfolgreich in die Welt der Armen vor.
  • Komplexität und Verstrickung sind meist derart fortgeschritten, dass strukturelle Förderung oft in den Bereich der Unmöglichkeit rutscht und gar nicht mehr erwünscht ist - Arme wollen womöglich nicht befreit werden, sondern sie erwarten, dass man ihnen das Armsein, das Ausgebeutet-werden erträglicher macht - was Evangelikale zu bieten haben, Befreiungstheologen aber kaum guten Gewissens bieten werden können. (Klassisches Beispiel: Kinderarbeit!).
Was kann also eine (europäische) Theologie der Befreiung heute tun?

Eine hoffentlich unvollständige Liste von Optionen

Konzentration auf Europa: Häufig wird die Ansicht vertreten, die Aufgaben der Theologie der Befreiung wären heute mehr als wo anders hier vor Ort zu suchen und zu finden. Armut wird in Mitteleuropa ein immer bedeutenderes Thema, die Bildungspolitik tritt jegliches intellektuelle Potential mit den Füßen, die zunehmende Zahl an nicht mehr diskutierbaren Fragen, die Werte und Normen auf dem Weg zu einer neuen Form von radikalem Utilitarismus und nicht zuletzt die Wohlstandsverwahrlosung, Vereinsamung und Sinnleere böten ja tatsächlich genug Aufgaben, denen sich moderne, europäische Befreiungstheologie stellen könnte. Da ist es - so hört man bisweilen - garnicht wirklich nötig, die Armut in anderen Ländern als Betätigungsfeld zu beanspruchen.
Konzentration auf Strukturfragen: Immer wieder kommt die Tendenz zu tragen, dass man sich doch nicht im unüberschaubaren Sumpf der verschiedensten Basisgemeinden seine Kräfte rauben sollte, sondern vielmehr gebündelt gegen die strukturelle Unterdrückung vorgehen müsste. Die Exodus-Geschichte muss hier oft Pate stehen für politische Revolutionsphantasien und das Ägypten von heute - der Welthandel? - wird zum Feind des Gottesvolkes, nicht der einzelne Ägytper, der an der Unterdrückung verdient. Das macht auch durchaus mehr Sinn, als wie Sisyphos einzelne Steine den Berg hinauf zu rollen.
Konzentration auf konkrete Entwicklungshilfe: Die Gegentendenz stellt wieder das einzelne Projekt in den Vordergrund, es geht darum, an möglichst vielen einzelnen Punkten Entwicklungshilfe zu ermöglichen und zu leisten. Dabei sollten theologische, politische und vor allem ideologische Programme in den Hintergrund treten.

Pluralismus als Zukunftsstrategie

Die vorgeschlagenen Ausrichtungen von befreiungstheologischer Arbeit haben alle ihre Stärken und - solange sie alleine für sich betrachtet werden - auch ihre Fehler. Eine gegenwärtige Theologie der Befreiung muss sich darauf einrichten, diese und andere Strategien neben- und miteinander ohne Unterschied in der Wertigkeit und mit einem viel höheren Grad an Vernetzung zu fördern und zu betreiben. Dazu ist ein theoretisches Fundament ebenso unverzichtbar wie eine massive Steigerung an Kommunikabilität und Vermittlungsarbeit.
Es müssen neue Felder erschlossen werden, sowohl regional, wie auch sektoral und fachlich-theoretisch. Als erstes aber muss die Theologie der Befreiung kommuniziert werden und kommunizierbar gemacht werden. Befreiungstheologie gehört in die Religionspädagogik ebenso wie in die Pfarrgemeinden und vor allem auch in die Medien.

Selbstkritik und Selbstreflexion

Ist das nicht eigentlich eh schon so? Auf den ersten Blick scheinen diese Impulse faktische Nullstellen zu sein, die einen Zustand fordern, der ja ohnehin herrscht. Tatsächlich werden unterschiedlichste Initiativen befördert und die Aktiven in hochländischen Kleinbauernkooperativen unterschreiben brav jede ATAC-Petition, kaum ein Lateinamerika-Aktivist, der nicht auch ein Auge auf die Situation in Europa hätte und die Zusammenarbeit zwischen Organisationen, die unterschiedliche Anliegen befördern, existiert ja auch.
Doch stimmt das wirklich?
  • Wenn ich Unterricht zu Themen der Befreiungstheologie vorbereite, lande ich letztlich immer beim Material sozialistischer und kommunistischer Organisationen, während die durchaus auch existierenden Materialien der kirchlichen Einrichtungen in irgendwelchen Regalen stehen.
  • Wenn nicht Leo Maasburg mit einem unqualifizierten Rundumschlag gegen die Befreiungstheologie auf sich aufmerksam gemacht hätte, wäre die regelrechte Umvolkung bei Missio Austria an einem Großteil der befreiungstheologischen Szene spurlos vorübergegangen.
  • Die Weiterentwicklung der befreiungstheologischen Theorie hat sich (Hand in Hand mit Teilen - oder Überresten? - der intellektuellen Linken) aus dem ideologieübergreifenden Deutungshorizont verabschiedet und scheint in eine Phase der Kommodifizierung zu treten, in der weder der wegbrechende Dialog mit dem Sozialismus noch der längst eingeschlafene Dialog mit dem übrigen Christentum als Mangel empfunden werden.
  • Wenn Befreiungstheologie in einer breiten Öffentlichkeit thematisiert wird, dann ist das in den meisten Fällen der Verdienst der Glaubenskongregation.