Donnerstag, 10. Juni 2010

Märchenprinz und andere Syndrome

Überkommene Idealvorstellungen jenseits jeglicher Plausibilität und der Privatfernseh-Mischmasch aus Sozialpornos, Soaps und US-Serien fügen sich zu einem Gesamtbild zusammen, das die aktuellen Geschlechterrollenkonstruktionen für die nächsten Generationen weiterschreibt und die Beziehungsfähigkeit der Menschen nachhaltig beeinträchtigt.

Märchenprinzen, weiße Pferde und Kutschen

Vereinfacht dargestellt lief die Mädchenerziehung in Sachen Beziehungen jahrhundertelang nach dem selben Schema ab: Spätestens ab dem vierten Lebensjahr hörten die Mädchen Geschichten von Märchenprinzen, die später dann etwas abgestuft zu "der Richtige" werden.
Dieser "Richtige" würde sich dann unverzüglich als solcher zu erkennen geben, oder gar von den Eltern als solcher identifiziert werden. Und: er setzt idealtypische Vorstellungen in die Tat um, wird also Papas kleine Prinzessin zu seiner Königin machen.
Je besser es der Erziehung gelang, diese Vorstellung nachhaltig den Töchtern einzuprägen, umso leichter fiel es in der heißen Phase der Erziehung, selbige vor dem jugendlichen Überschwang der heranreifenden Männerwelt zu beschützen.
Unangenehme Nebeneffekte wie die Tatsache, dass zwangsläufig die erste halbwegs ernsthafte Teeniebeziehung dann mit dem tief verankerten Bild vom Märchenprinz in Verbindung gebracht werden muss und das notwendige, unausweichliche Zerbrechen dieser Beziehung zu einem kaum überwindbaren psychologischen Schaden führen würde, wurden dabei billigend in Kauf genommen.
So funktionierte es - und es funktionierte schlecht. Doch das schien jahrhundertelang kaum jemanden zu stören. Wenn dann nämlich Märchenprinz Nummer zwei oder drei ein weißes Pferd und eine Kutsche anmietete, väterlichen Segen erwarb, dann konnte man doch in das königliche Schloss einziehen, nicht wahr?

Verliebt in Anna und Berlin in guten wie in schlechten Zeiten?
Doch das ist alles Unsinn und Märchen aus der Vergangenheit! Wer glaubt denn heute noch so einen Mist?
Zu viele Menschen tun das, leider. Zwar haben die gesellschaftlichen Umbrüche nach dem II. Weltkrieg vor allem in westlichen Gesellschaften geschickt die Verknotung von Märchenprinzen und Geschlechtsverkehr aufgelöst, was ja unbedingte Voraussetzung für die "freie Liebe" war, zu der alle, die nach 1955 geboren wurden, heillos zu spät kamen. Davon einmal abgesehen hat sich allerdings wenig verändert.
Das Mitleben und Mitleiden mit literarischen Figuren ist dabei nicht die Neuigkeit - das schaffte man schon im griechischen Theater. Die Verwendung von darstellendem Spiel als Vehikel für moralische Botschaften über Lebenskonzepte, Vorstellungen davon, was richtig und falsch ist, vor allem aber für die Vorstellung vom geglückten Leben ist ebensowenig neu wie originell.
Dass die gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit in die Handlung eingearbeitet werden, ist auch nicht neu - mit der Darstellung einer stutenbissigen Karrierefrau hätte man halt in der Antike, sagen wir, das Genre verfehlt. Stellt sich die Frage: sind die Handlungen neu? die Handlungsverläufe, die Gestaltungsprinzipien? Nein, nichts ist neu. Wie schon immer, kommt der normale, durschnittliche und vor allem vernünftige Mensch nicht vor - und der "Hausverstand" ist ins Werbefernsehen abgewandert.

Oberschichtenromantik (nicht nur wegen der Fallhöhe) wird im Unterschichtenfernsehen dem bildungs- und moralfernen Publikum vorgeführt und mit moralischen Botschaften von Menschen, die selbst keine Haltung, kein Ethos besitzen, gewürzt. Unter der Oberfläche findet unbemerkt von Autoren, Aktueren und Publikum die postbutlersche Rekonstruktion von Geschlechterrollen aus dem viktorianischen Zeitalter statt. Verschleiert wird das durch die Einbeziehung moderner Grundtypen: Karrierefrauen kommen ebenso selbstverständlich vor wie homosexuelle Männer (Lesben sind da eher nicht gefragt, Ausnahmen aus den Frühneunzigern bestätigen die Regel) - und natürlich AlleinerzieherInnen, Patch-work-Konstellationen aller Art.
Überspitzt könnte man fast sagen: hat man einen Schwulen im Programm, fällt keinem mehr auf, wenn man mit dem selben Programm extrem konservative Wertvorstellungen vermittelt und propagiert.

Sex and the Hospital

Serienhits von Heute kommen ohne Sex und Ärzte nicht aus. Was in den 90ern die Anwälte waren, sind jetzt die Ärzte. Die Botschaften sind die selben: Hab einen coolen Beruf, dann hast du viel Sex. Viel und guten Sex zu haben ist Ziel, Zweck und vielleicht sogar überhaupt Rechtfertigungsgrund für das Dasein. Sexualität wird zum Grundbedürfnis, dessen Befriedigung Priorität vor allen anderen Gründbedürfnissen hat. Und: Am Ausmaß dieser Befriedigung wird persönlicher Erfolg gemessen, nicht nur das, auch soziale Kompetenz. Die wirklich angsehenen Rollen in diesen Serien haben die Akteure, die mit den Worten "Ich brauch jetzt Sex!" sich den oder die Nächstbeste schnappen und mit ihr in einem Medikamentenlager verschwinden.
Auf der anderen Seite ist es natürlich höchst bedeutsam, wer, mit wem, wann, warum und sogar wo sexuelle Begegnungen hat. Das liefert Gesprächsstoff und hält die meist schwache Dramaturgie am Laufen, die sonst wahrscheinlich pro Folge eine unüberschaubare Menge von höchstdramatischen Einzelschicksalen benötigen würde, um irgendwie Spannung aufzubauen.
Am Rande sei natürlich auch erwähnt, dass diesen Serien-Sex, der natürlich nur in der Form der Mauerschau vorkommt, meist die Akteure haben, die jung, schlank und gemäß der aktuell von der Medienwelt propagierten Vorstellungen gutaussehend sind. Ausnahmen dienen lediglich zur Erzielung eines kurzen Lacheffekts.

Reality: Sozialpornos

Was die Ärzte können, können die Unterschichten in den Plattenbauten schon längst! Ob bei Teenager werden Mütter oder sonst wo, man weidet sich an den sozialen, sprachlichen und intellektuellen Defiziten der bildungsfernen Schichten. Doch nicht genug, die finden das auch selbst noch höchstinteressant und begeistern sich für die Sendungen - möglicherweise, weil sie Menschen sehen, die irgendwie sind wie sie, aber halt noch ein bisschen schlechter.
Längst ist offenbar geworden, dass hinter diesen Sendungsformaten die Ergötzung an der Unzulänglichkeit anderer steht, die vielen Menschen oft die einzige Möglichkeit ist, sich von der eigenen abzulenken. Nur logisch, dass immer mehr Sendungen darauf abzielen, diese Menschen "herzurichten" wie sie nach Vorstellung der RedakteurInnen gehören.
Die Frage, was diese Menschen mit den schillernden Persönlichkeiten aus den Ärzteserien zu tun haben, lässt sich auf den zweiten Blick relativ leicht beantworten: sie sind das Gegenbild, der Kontrapunkt, das abschreckende Beispiel.

Der neue Mensch?

Die Wertevermittlung durch die Medien scheint auf Hochtouren zu laufen und sie funktioniert sowohl direkt wie auch sublim durch das Festsetzen von Idealvorstellungen. Zusammengefasst und ein bisserl weniger zynisch als hier im Blog findet man dieses Ergebnis in einem Essay von Clemens Berger: Suche nach neuen Menschen. Wenn auch sperrig, durchaus lesenswert!

Jetzt, so könnte man meinen, würde sich herausstellen, dass der zentrale Wert, der hier vor allem bei den Unterschichten ankommen müsste, doch eigentlich die Bildung wäre, die den deutlichen Unterschied zwischen den DoktorInnen bei Greys Anatomy und den Müttern und Großeltern bei Teenager werden Mütter ausmacht.
Doch: falsch gedacht. Der Wert der Bildung ist der breiten Masse immer noch gänzlich unbekannt. Die Message, die ankommt, ist auch nicht Liebe, Menschlichkeit und Verständnis - sieht man von den leicht durchschaubaren Nischenprodukten aus evangelikalem Umfeld einmal ab. Was ankommt ist: Sex. Und zwar: guter Sex.

Guter Sex
Relativ deutlich zeichnet sich aus allen Medienprodukten ab, was "guter Sex" ist. Das mag vielleicht daran liegen, dass sich die unterschiedlichsten DrehbauchfabrikantInnen zwar nicht darauf einigen können, was gute Bildung ist, was ein gelungenes Leben ist, ... aber: darüber, was guter Sex ist, darüber sind sich fast alle Serien einig:

  1. Von gutem Sex wird man nicht schwanger, es sei denn, man wünscht sich ein Kind.
  2. Guten Sex hat man dann, wenn man ihn will, und sonst nicht.
  3. Guten Sex hat man mit attraktiven, erfolgreichen Menschen. Daraus folgt logischerweise:
  4. Guten Sex haben nur attraktive und erfolgreiche Menschen.
Die Liste ließe sich wahrscheinlich noch fortsetzen, aber für den Punkt, auf den ich jetzt hinaus will, reicht es schon mal: Sexualität wird zum Vehikel der Selbstbestätigung. Sie ist nicht mehr der Trieb, den die einen in ihr sehen, und sie ist nicht mehr der Ausdruck tief empfundener, personaler Beziehung, wie sie aus christlicher Sicht zu sehen wäre.

Gravierender als all das zusammen ist eigentlich nur mehr die Tatsache, dass dieses Wertediktat auch an hochgebildeten, differenziert denkenden und sensiblen Menschen durchaus Wirkung zeigt - verherende, manchmal.

Donnerstag, 6. Mai 2010

Ich zitier mich am liebsten selbst ...

weil da weiß ich wenigstens, wie es gemeint ist.

Flohhalsband versus Schrottflinte

In der Hochblüte der Berichterstattung über Missbrauchsfälle in verschiedenen Einrichtungen (von Der Standard und ORF gezielt auf die Fälle in kirchlichen Einrichtungen konzentriert) haben sich viele gefragt, ob man nicht aufgrund solcher Berichte aus der Kirche austreten sollte. Die ÖH an der Universität Salzburg meinte ja neulich, ihre Mitglieder mit solchen Empfehlungen beglücken zu müssen. Nun, wer als einziges Werkzeug einen Hammer hat, wird in jedem Problem einen Nagel erkennen - soviel ist klar, doch das ist es noch nicht. Irgendwie erinnerte mich dieser Kurzschluss an etwas anderes:

Das brachte mich dann zu einer Aussage, die mir ziemlich skeptische Blicke eintrug:

Wenn ich ein Flohproblem habe,
hole ich doch auch nicht die Schrottflinte aus dem Schrank
und erschieß den Hund!
Die Flöhe würdens nicht einmal merken!

Donnerstag, 11. März 2010

Die perfekte Welle?

Sexueller Missbrauch und Gewalt in kirchlichen Einrichtungen in Deutschland und Österreich beschäftigt derzeit die Medien. Eine Stimmung macht sich breit, in der Vieles infrage gestellt wird. Zeit, das Problem und die Reaktionen einmal aus einer gewissen Distanz zu beleuchten.

Gleich vorweg: Es steht außer Streit, dass jeder einzelne Fall einer zu viel ist und nicht hätte passieren dürfen. Es steht auch außer Streit, dass die Aufmerksamkeit und Sorge dem Wohl der Opfer gelten muss - unabhängig davon, ob die Ereignisse Tage oder Jahrzehnte zurück liegen. Es steht auch außer Streit, dass der Umgang mit diesen Fällen und die Konsequenzen für die Täter eine deutliche Sprache sprechen muss, was vor allem bedeutet, dass bei aller vielleicht gebotenen Barmherzigkeit sicher zu stellen ist, dass diesen nicht neuerlich Aufgaben übertragen werden, die weitere Taten ermöglichen oder auch nur eine Versuchung dazu darstellen.

Worum geht es?

Die große Schwierigkeit bei diesem Thema besteht darin, dass man eigentlich nicht weiß, wovon die Rede ist. Die Schlagwörter Missbrauch und Gewalt sind zu pauschal und vieldeutig. Für eine allgemeine Befassung mit diesem Thema reicht es aber, festzustellen, dass alles, was auch nur annähernd unter diesen Begriffen subsummiert werden kann, in kirchlichen Einrichtungen nicht vorzukommen hat.
Es geht hier vielmehr um eine andere Frage: Wie soll Öffentlichkeit und Gesellschaft mit dem, was hier zutage tritt, umgehen? Wobei zu hoffen ist, dass Justiz und kirchliche Gerichtsbarkeit ohnehin wissen, was sie zu tun haben.

Austrittswelle in Sicht

Zu erwarten ist eine neuerliche Austrittswelle, die wahrscheinlich dieser Tage bereits losrollt. Logische Kurzschlüsse wie "ich zahle nicht für Kinderschänder" sind bereits im Internet verbreitet und stoßen erwartungsgemäß auf hohe Zustimmung, wie das bei einfachen Antworten ja immer der Fall ist.
Ist das der richtige Weg? Ganz im Gegenteil. Erstens schon einmal deshalb nicht, weil die dadurch dann fehlenden Kirchenbeiträge nicht denen fehlen, die man damit treffen will, sondern im Gegenteil völlig unbeteiligte - die Hauptamtlichen und Freiwilligen in den Pfarren, die Arbeit der Caritas in der Flüchtlingsbetreuung, Obdachlosenbetreuung und Altenpflege, die Arbeit der Hospizbewegung und die Arbeit anderer kirchlicher Einrichtungen. Weder Flüchtlinge, noch Obdachlose, auch nicht in Not geratene schwangere Frauen tragen irgendwelche Schuld an den Vorfällen - die Strafe jedoch gilt ihnen. Die Arbeit der hauptamtlichen und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen in den Pfarren hat mit den Vorfällen nichts zu tun - sie sollen aber draufzahlen?

Wem der Kirchenaustritt vollkommen egal ist

Die Kirchenaustritte sind schlecht für die Statistik, das stimmt. Insofern könnten sie dem Papst oder dem ein oder anderen Kurienkardinal ein kurzes Stirnrunzeln bereiten.
Ansonsten kann es denen vollkommen egal sein, weil die Gelder aus dem Kirchenbeitrag sieht der Vatikan ohnehin nicht, also fehlt ihnen auch nichts, wenn diese Gelder weniger werden.
Die Klöster - auffällig viele der Missbrauchsfälle haben sich im Umfeld von Ordenseinrichtungen ereignet - sind wirtschaftlich autark, das heißt, sie erwirtschaften das Geld, das sie brauchen, selbst: entweder durch Bewirtschaftung von Ländereien, durch die Arbeit ihrer Ordensmitglieder oder durch Spenden. Auch die Klöster bekommen von den Geldern aus dem Kirchenbeitrag nichts - auch ihnen wird nichts fehlen, wenn diese Gelder weniger werden.

Wem der Kirchenaustritt nützt

Wer hat dann eigentlich etwas davon, dass es nach solchen Enthüllungen zu den obligaten Austrittswellen kommt?
Zuerst einmal die grundsätzlich kirchenfeindlich eingestellten Kreise, allen voran der fundamentalistische Atheismus - ihnen spielen solche Ereignisse in die Hände und sie sind sich auch nicht zu schade, aus dem Leid der Opfer politisches Kleingeld zu schlagen.
Dann aber - und das sollte zu denken geben - profitieren hauptsächlich die Täter von der Austrittswelle. Diese Aussage bedarf einer genaueren Erklärung:

Zuerst muss man wissen: die römisch-katholische Kirche in Österreich ist der Arbeitgeber von 60.000 Menschen. Zu diesen zählen insbesondere hauptamtliche Pastoralassistentinnen und Pastoralassistenten, die in den Pfarren die seelsorgliche Arbeit des Pfarrers mittragen und unterstützen.
Schon lange hat sich in vielen Pfarren die Praxis eingelebt, dass diese Pastoralassistentinnen und Pastoralassistenten gemeinsam mit ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Ministrantinnen und Ministranten und vieles mehr zuständig sind. Viele Pfarrer halten sich aus diesen Bereichen aus verschiedenen Gründen weitgehend heraus.
Wenn nun die Beiträge weniger werden, wird es diese Angestellten zuerst treffen. Nun mag zwar jenen Menschen, die auf den Impuls solcher Missbrauchsfälle hin aus der Kirche austreten, die Tatsache relativ egal sein, dass deren Arbeit dann nicht mehr getan wird, was ihnen aber nicht egal sein sollte: die Priester, die das oft aus gutem Grund nicht wollen, werden sie wieder tun müssen, und - selbst wenn nicht - fehlt eine auf Vollzeitbasis anwesende Person im Pfarrbetrieb. Welche Rolle das spielen würde, das ist wahrscheinlich in jeder Pfarre unterschiedlich - jedenfalls ist es allerdings sehr häufig, dass die pastoralen Angestellten in der Pfarre die Rolle eines gesunden Korrektivs übernehmen. Es ist also zumindest vorstellbar, dass ihr Fehlen in der Pfarre neuerlich jenes ungebremste hierarchische Gefälle erzeugt, das früher zwischen Pfarrer und den Gemeindemitgliedern - vor allem den jüngsten darunter - stand. Mit "früher" meine ich im übrigen genau jene Zeit vor dem Konzil, in der sich ein Großteil der Missbrauchsfälle ereignet hat, von denen in den Medien dieser Tage die Rede ist. Ob das im Sinne der Kichenaustreterinnen und Kirchenaustreter wäre?

Warum nicht: "Jetzt erst recht!"?

Ein Teil der innerkirchlichen Probleme verdankt sich dem Umstand, dass kirchenkritische Gläubige zu leichtfertig der (Amts-)Kirche den Rücken zukehren, anstatt aktiv aufzutreten und sich als Kirche gehör zu verschaffen. Kirchenpolitisch sind diese Austrittswellen wahrscheinlich sogar ein wesentlicher Faktor für das konservative Bewahren eines Ist-Zustandes, auch wenn dieser schon längst nicht mehr tragbar und erträglich ist.
Es ist bequemer, auszutreten und zu schimpfen, als aufzustehen und etwas zu tun.

Sonntag, 17. Januar 2010

Als Hedonismus getarnter Fatalismus

Fatalismus ist in unserer Leistungsgesellschaft etwas Unerwünschtes - Leute, die aussprechen, welche Maßnahmen im persönlichen wie im öffentlichen Leben eigentlich vollkommen wirkungslos sind, bremsen die Wirtschaft und werden als Pessimisten und Fatalisten in öffentlichen Diskursen an den Rand gedrängt. Eine andere Art von Fatalismus scheint sich allerdings höchster Beliebtheit zu erfreuen.

"Bereue nichts, wenn du in diesem Augenblick glücklich warst"
Nur einen kurzen Moment nachgedacht entpuppt sich die Aussage als ein Aufruf dazu, sein Leben zu versauen und es wegzuwerfen zugunsten von Augenblicken, in denen man glücklich ist. Ebenso könnte man einer suizidgefährdeten Person am Dach des Wolkenkratzers sagen, sie soll doch den freien Fall genießen, dieses unbeschreibliche Gefühl von Freiheit, dann wäre es schon in Ordnung, sich feig aus dem Leben zu stehlen. Ich spüre schon das Entsetzen, wenn diese Zeilen gelesen werden: "das kann man doch so nicht sagen" - "so ist das doch nicht gemeint" - "das kann man nicht vergleichen". Doch! Man kann, und ich bin der Meinung, man muss sogar.
In der Absolutheit der Formulierung rechtfertigt dieser Spruch eigentlich alles - alles, was in einer negativen Sicht von Hedonismus Platz hat. Die Botschaft ist so klar und eindeutig, dass es eigentlich schaurig ist, wie oft sie nicht gesehen und nicht verstanden wird.
  • Schalte dein Gewissen aus!
  • Schau nicht auf dein Leben, schau auf den Augenblick!
  • Denke nicht darüber nach, was du getan hast und vor allem
  • denke nicht darüber nach, was du tun wirst.
Anwälte und Therapeuten wollen schließlich auch von etwas leben, und wenn die Menschen keine Fehler mehr machen oder die Fehler, die sie gemacht haben, selbst bewältigen, dann würde das ziemlich knapp werden.
Der ständige Blick aufs Große und Ganze scheint außerdem sowieso auf die Dauer eine Überforderung zu werden, denn wer gewohnt ist, dass jeder brutale Fernsehkrimi alle viertel Stunden einmal eine Werbepause mit möglichst viel schönen Dingen hat, dem entgehen manche Zusammenhänge ganz selbstverständlich.

"Ich bin, wie ich bin - damit müsst ihr leben"
Da könnte man auf den ersten Blick meinen, dass es sich um eine flapsige, aber gut gemeinte Bestärkung des eigenen Selbstbewusstseins handelt. Und es ist schließlich nur eine Facebook-Gruppe mit gut 500 Mitgliedern. Die ideologische Schwesterngruppe "Ich bin so! Ich bleib so! Kommst du damit nicht klar dann verpiss dich!" zählt 12.000 Mitglieder. Der österreichische Popsänger Falco hat 1998 die dahinter stehende Geisteshaltung mit den Zeilen "Die ganze Welt dreht sich um mich, denn ich bin nur ein Egoist" beschrieben.
Es handelt sich nämlich hier garnicht um eine Stärkung des Selbstbewusstseins sondern um eine Ätiologie asozialen Verhaltens.
"Bleib, wie du bist - damit du wirst, wie du sein kannst" könnte man hier getrost als Gegenkonzept anführen: Sich selbst treu bleiben, seine Identität nicht aufgeben, und eben deshalb offen sein für Veränderung - genau das wird mit den zitierten Aussagen deutlich abgelehnt und durch ein Festbeißen in den status quo des eigenen Ichs ersetzt. Die modernen Ideale der ewigen Jugend sind ein Nährboden für diese Art von Erstarrung, Konservativismus und Traditionalismus. Das asoziale Verhalten ist die Frucht dieses Bodens und die aggressive Verteidigung des Selbstbewusstseins ist ein deutliches Zeichen dafür, dass dieses Selbstbewusstsein eigentlich fehlt - es wird ersetzt durch Äußerlichkeiten, die als Identitätsmerkmale herhalten müssen.
Das erfüllt natürlich einen doppelten Zweck: Zum einem werden diese Äußerlichkeiten damit nutzbar gemacht, zum anderen werden sie entschuldigt, wodurch eine eventuell notwendige Änderung abgeblockt wird - als ein Angriff auf die eigene Identität.
So begiebt man sich in eine Sackgasse der Persönlichkeitsentwicklung und während der Zahn der Zeit am Körper nagt, bleibt die Psyche dort gefangen und ist weit von der notwendigen Umkehr und Versöhnung entfernt, die aus der Sackgasse herausführen könnten. Dass es der Psyche dort dann ziemlich bald zu eng werden wird, darüber denkt man am Besten nicht nach.

Augenblicke gehören zum Ganzen, Veränderung gehört zum Leben
Jeder Augenblick ist Teil des ganzen menschlichen Lebens und Identität lässt sich nur in der Veränderung erhalten. Das klingt bei weitem nicht so reisserisch und populär, dabei können auch die einschlägigen Berufsgruppen nicht die Kassen klingeln hören und jene Menschen, die den unerkannten Fatalismus anderer ausnützen wollen, stehen auf verlorenem Posten. Doch kommt das der Wirklichkeit um einiges näher als die flotten Sprüche, die so breite Zustimmung finden. Und Platz für Hedonismus - wirklichen Hedonsimus - gibt es bei Weitem genug: Was ist größere Freude, als sich am ganzen Leben erfreuen zu können? Da kann jeder glückliche Augenblick einpacken. Was ist größere Freude, als in der Veränderung ganz selbst sein zu dürfen? Da ist stures Stillhalten doch mühsam dagegen.

Dienstag, 5. Januar 2010

Terror

terror, oris, m. (terreo) 1. Schrecken: externus vor auswärtigen Feinden (Livius); occ. Scheu (Christliche Texte); 2. meton. Schrecken, Schrecknis: imperii, caelestes maritimque am Himmel und im Meer (Livius); 3. Schreckensnachricht; terror affertur (Livius, Cortius Rufus).

terreo 2. ui, itus trans. 1. (er)schrecken, in Schrecken versetzen; pass. erschrecken = erschreckt werden; occ. 2. scheuchen, jagen: profugam per totum orbem (Ovid), ferras (Vergil); 3. abschrecken; mit ne, quominus.

So haben wir es gelernt - oder zumindest steht es so in unseren Schulwörterbüchern mit dem niedlichen Namen "Der kleine Stowasser".
Terror heißt also in erster Linie einmal Schrecken, als Ereignis in einem Augeblick auch Erschrecken, in der dauerhaften Form (wie die Verwendung bei Livius zeigt) ist Schrecken soetwas wie Angst und Furcht.

Auf diese Grundbedeutung des Wortes sollte man sich wieder einmal besinnen, denn aus gutem Grund wurde dieses Wort zuerst als Fremdwort, später als Lehnwort in unserer Sprache (wie auch in allen anderen, von denen ich ein bisschen Ahnung habe) für jene Gewaltakte etabliert, deren Urheber das Ziel verfolgen, Schrecken, Angst und Furcht zu erzeugen: entweder in der Bevölkerung, um die Politik damit unter Druck zu setzen, oder direkt bei einer beliebig großen Gruppe entscheidungsbefugter Personen.
Nun drängt sich mir eine Frage auf (und gleichzeitig Erstaunen darüber, dass diese Frage noch nicht von einer breiten Öffentlichkeit in Europa und den USA diskutiert wird):
Wenn der klügste Präsident der Geschichte der Vereinigten Staaten mit seinem Kampf gegen den Terror neben militärischen Aktionen dauerhafte Einschränkungen der persönlichen Freiheit verbindet, dann ist den meisten Menschen klar, dass er - sozusagen die Gunst der Stunde nutzend - massiv in die Bürgerrechte eingreift. Eine Frage, die ich bisher vermisse, ist allerdings, ob er damit nicht den Zielen des Terrorismus eigentlich eher zum Durchbruch verhilft, als den Terrorismus selbst zu bekämpfen. Da spricht einiges dafür:
Ein Terrorist oder eine Terrorgruppe können mit gezieltem Handeln eine gewisse Anzahl von Personen töten, Gebäude oder Gegenstände zerstören, allenfalls auch Infrastruktur über eine mittlere Zeitspanne lahmlegen. Das ist alles schrecklich, das steht außerhalb jeder Diskussion, und jeder Tote ist einer zu viel, denn sie alle sind Menschen mit Plänen für die Zukunft, mit Angehörigen und Freunden, denen durch den Verlust furchtbares Leid widerfährt. (Und - ein unvermeidlicher Nebensatz - wer allen Ernstes glaubt, dass dies durch die Lehren irgendeiner Religion rechtfertigbar sei, ist einfach nur dumm und wahrscheinlich selbst Fanatiker).
Das schaffen Terroristen, mehr ist ihnen nicht zuzutrauen. Den Rest der Arbeit erledigen in der Europäischen Union und in den Vereinigten Staaten die Politiker - die tragen Sorge dafür, dass sich Angst und Schrecken halten, dass sie zur Dauerinstitution werden.
Wer heute an einem Flughafen in der EU oder in den USA ein Flugzeug besteigt, ist potentieller Terrorist und wird auch so behandelt - und er sitzt im Flugzeug mit hunderten anderen potentiellen Terroristen. Es werden Taschen durchleuchtet, alles was größer ist als eine Zahnpastatube gilt als Terrorgefahr, und demnächst - daran habe ich keinen Zweifel - werden uns die Bediensteten des Sicherheitspersonals vollständig durchleuchten.
Damit ist doch eigentlich sichergestellt, dass Terror immer weitergeht, nie aufhört. Alleine hätten das die Terroristen nie geschafft.

Welche Botschaft sendet die terrorbekämpfende Politik damit an die Terroristen? Sagt man denen damit nicht: Wir haben Angst! Ihr habt eure Ziele erreicht! Wenn ihr uns noch mehr Angst macht, werdet ihr noch erfolgreicher sein!
Müsste nicht eigentlich die Botschaft von Politik an die Terrororganistationen lauten: Ihr habt keine Macht! Ihr könnt uns nicht in Angst und Schrecken versetzten! Wieviele Leute wollt ihr noch umbringen, bevor ihr einseht, dass ihr keine Chance habt? Wenn ihr berechtigte Anliegen habt, dann bringt sie vor! Schlagt Lösungen vor, redet! Menschen aus dem Leben zu reißen wird euch euren Zielen keinen Schritt näher bringen!

Wie das gehen soll, das weiß ich auch nicht. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es vertretbar wäre, die Sicherheitskontrollen zurückzufahren. Aber es ist auch nicht vertretbar, sich von Terroristen vor sich her treiben zu lassen.

Philosophen, Politiker und Theologen aller Weltreligionen sollten einen breiten Diskurs darüber anzetteln, wie man dem Terror begegnen kann, anstatt ihm zum Durchbruch zu verhelfen.