Montag, 30. November 2009

Scheinheiligkeit auf Hochtouren

Immer wieder habe ich mir erlaubt, die Scheinheiligkeit derer zu kritisieren, die sich heute "links" nennen. Der Kernpunkt war dabei immer, dass konsequentes Durchdenken der eigenen Positionen in der "Linken" schon längst durch reflexartiges Zuschnappen und verlässliches Einnehmen der Gegenposition des "Feindes" abgelöst worden ist. Die letzten Wochen haben das wieder einmal hervorragend vor Augen geführt.

Eben haben sie noch - inspiriert durch ein europäisches Gerichtsurteil - das Abmontieren der Kreuze in den Klassenzimmern gefordert und das mit den üblichen Standardargumenten zu untermauern versucht, jetzt liegt ihnen das sicherlich an politischer Dummheit kaum zu überbietende Schweizer Abstimmungsergebnis über ein Minarettverbot plötzlich schwer im Magen.
Reihenweise haben sie die Facebook-Startseiten des gesamten Freundeskreises mit der Nachricht "... ist der Gruppe Raus mit den Kreuzen aus den Klassenzimmern beigetreten." gefüllt und genauso reihenweise tun sie jetzt ihr Entsetzen über das Schweizer Minarettverbot und die ohnehin obsolete Diskussion über die Möglichkeit, Ähnliches in Österreich einzuführen, lauthals und wortschwallig kund.

Islam-Bashing ist böse

Wir können uns sicherlich schnell darauf einigen, dass das pauschale Losgehen auf den Islam nicht der politischen Kultur entspricht, die wir uns alle - ob links oder rechts - wünschen würden, aber die wir alle - ob links oder rechts - selbst offensichtlich nicht haben.
Denn schon der zarte Versuch, diese Aussagen über den Islam ein wenig zu verallgemeinern und auch auf andere Religionen zu beziehen, scheitert an der einfachen Tatsache, dass sich unter diesen anderen Religionen neben schützenswerten Orchideen auch die Mehrheitsreligion Christentum befindet.
Es ist schon klar, dass mit dem Christentum für die meisten dieser Menschen tiefgreifende, persönliche Verletzungsgeschichten verbunden sind und verschiedenste Erfahrungen mit der Kirche in ihrer jeweilig erlebten Form diese ablehnende Grundhaltung durchaus verständlich machen können.
Diese Verletzungsgeschichten sitzen meistens noch so tief, dass die Diskussion gleich auf die historischen Greuel- und Schandtaten natürlich hauptsächlich der katholischen Kirche gelenkt wird. Niemand, der an einem ernsthaften Dialog interessiert ist, wird sich aber auf die Aufrechnerei von Kreuzzügen und Hexenverfolgung gegen Guillotine, Holocaust und Intifadas einlassen. Nichts von dem entspricht auch nur im geringsten der Glaubenslehre, auf die es zurückgeführt wird - wem das nicht in vollem Umfang klar ist, der sollte sich aus solchen Diskussionen schnellstens verabschieden.

Trennung von Staat und Kirche

Der nächste Versuch einer Flucht nach vorne ist die Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche, oder - wie die wenigen Besonnenen unter den Dawkins-Jüngern formulieren - zwischen Staat und Religion. Dabei braucht man nicht einmal Böckenförde bemühen, um diese Forderung als eine kurzsichtige Hohlphrase aus ebensolchen Köpfen entlarven zu können. (Obwohl natürlich das Schildern des Scheiterns laizistisch verstandener Religionsfreiheit am Beispiel Frankreichs immer wieder ein Vergnügen ist).
Seit Böckenförde ist schon einmal klar, dass der Staat mit dem Instrumentarium, das ihm in einer freiheitlichen Rechtsordnung zur Verfügung steht, nicht in der Lage ist, die Voraussetzungen für das gesellschaftliche Zusammenleben zu schaffen. Wo ein Staat dies versucht, beschneidet er die Freiheit, die er seinen BürgerInnen eigentlich garantieren sollte.

Wer zu diesen Freiheiten auch die Religionsfreiheit zählt, wird sich über kurz oder lang nur mithilfe von Alkohol und Gras der Erkenntnis widersetzen können, dass eine Gesellschaft, in der Religionsfreiheit herrscht, schließlich aus Individuen bestehen wird, die auf die eine oder andere Weise und in unterschiedlichem Ausmaß religiös sind. Gut, zumal es noch nicht gelungen ist, eine vollkommen religionsfreie Gesellschaft ausfindig zu machen, wird man das jetzt nicht unbedingt als Folge der Religionsfreiheit sehen müssen - denn die Folge der Religionsfreiheit ist eine andere: Sie verpflichtet dazu, diese Religiosität auch zuzulassen.
Nun gehört der Aspekt der Gemeinschaft zu den Kernpunkten der meisten Religionen, folglich muss Religionsfreiheit auch die Bildung religiöser Gemeinschaften ermöglichen.
Die aus religiösen Individuen und Gemeinschaften bestehende Gesellschaft braucht nun grundlegende Regeln, wie sie mit religiöser Vielfalt umgeht. Sinnvollerweise wird sie diese finden, indem sie die Religionen, die zahlenmäßig am stärksten vertreten sind, in die Festlegung dieser Regeln einbindet und selbst zugleich Anwalt der numerisch Schwächeren wird.

Religionsfreiheit, aber...

Für alle religiösen Menschen und Gemeinschaften ist die Toleranz gegenüber andersgläubigen eine Herausforderung, die Balance zwischen eigener Glaubensüberzeugung und Offenheit für Andere fällt vielen schwer. Je gefestigter und institutionell gereifter eine Religion ist, desto eher gelingt es ihr, den Spagat zwischen eigenem Absolutheitsanspruch (den ja jede Religion hat) und dem Respekt für die Wege der Anderen mit einer gewissen Gelassenheit hinzulegen. Ein Vergleich zwischen Judentum, Christentum, Islam und Atheismus kann diese Faustregel schnell bestätigen: Während das Judentum Mission ablehnt ist die christliche Toleranz kaum ein halbes Jahrhundert alt; die vollkommen akoranische Interpretation des Djihad als bewaffneter Kampf zur Durchsetzung der Sharia ist im Islam zwar seit ein, zwei Jahrzehnten nicht mehr Common sense aber immer noch verbreitete Auffassung und der Atheismus, die jüngste der genannten Religionen, lässt jegliche Form von Respekt und Toleranz anderen gegenüber vollkommen vermissen und stellt sich gar nicht einmal als Religion dar, sondern als unumstößlich bewiesene Wahrheit, deren Bestreiten nur als Mangel an Geisteskraft erklärt werden darf.

Religionsfreiheit kann daher nur funktionieren, wenn die Gesellschaft - jetzt brauchen wir doch ein bisschen Böckenförde - die historisch gewachsenen und sich stetig veränderten religiösen Rahmenbedingungen zulässt, fördert und ihnen Raum gibt. Aufgabe des Staates ist es dabei, den Religionsgemeinschaften Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen und sie im öffentlichen Leben zu integrieren, ihre gesellschaftlichen und kulturellen Beiträge zu würdigen und allenfalls auch auf der Erfüllung ihrer Aufgaben zu beharren. Kein Land wird dabei seine eigene, religiöse Vorgeschichte ausblenden können und dürfen. Das Ungleichgewicht zwischen Traditions- bzw. Mehrheitsreligion (vor allem wenn eine Religion beides ist) auf der einen Seite und neuen und Minderheitsreligionen andererseits entsteht dabei zwangsläufig. Diese Spannung ist nicht nur auszuhalten, sondern sie ist sogar notwendig und man kann es durchaus als eine gewisse Erbsenzählermentalität werten, wenn das als Ungerechtigkeit empfunden wird.

Kreuze, Minarette ... who cares

In einem Diskussionsforum hat neulich ein User in Anlehnung an Bonhoeffer den Satz gepostet "Nur wer für Minarette schreit, darf für das Kreuz in Schulklassen eintreten". Ein Ansatz, der schon einmal in die richtige Richtung geht (obschon er eine gewisse Schwierigkeit mit sich bringt, denn die Steine die kleinen, orthodoxen Ordensgemeinschaften in den Weg gelegt werden, wenn sie ihr altes Kloster in Anatolien renovieren und beziehen wollen, können einen da schon in Argumentationsnot bringen; doch auch hier ist Gegenrechnen nicht der Weg zum Ziel und zudem folgt die Türkei ja einem ähnlichen Staatsgrundmodell wie Frankreich, was wie schon angedeutet einiges erklärt - wenn auch nicht rechtfertigt). Dieser Satz, der ein Engagement für die Religionsfreiheit anstelle eines Engagements zugunsten einer bestimmten Religion fordert, der freilich überfordert die selbsternannte Linke, die sich mehr dem eigenen Beißreflex als ihren hehren Prinzipien verpflichtet sieht. Eine Gesellschaft, die religiöse Vielfalt nicht ertragen kann, ist nämlich auch nicht reif für eine positive Religionsfreiheit und die oft geforderte, negative Religionsfreiheit - ich nenne sie lieber laizistische Religionsfreiheit - ist de facto keine.
Nicht nur, weil nahezu alle Religionen - vor allem das Christentum - die eigene, gesellschaftsprägende und gesellschaftstragende Funktion als unverzichtbaren Teil der Glaubenspraxis sehen, sondern auch weil jeder Staat und jede Gesellschaft letztlich genau darauf angewiesen ist, kann Religionsfreiheit nur in einem pluralistischen Sinn überhaupt verstanden werden. Jede andere Position ist letztlich inkonsequent und scheinheilig.

Freitag, 27. November 2009

Relireg wird one!

Ohne Untermalung durch die britische Popband Noah and the Whale und völlig ohne kommerzielle Hintergedanken möchte ich an dieser Stelle die Tatsache erwähnen, dass dieser Blog heute seinen ersten Geburtstag feiert.

Zeit für einen kleinen Rückblick
Anfangs war nicht klar, was daraus werden sollte, nicht einmal, wie sehr ich als Autor von hier aus identifizierbar sein möchte, war irgendwie entschieden.
Inzwischen hat es sich längst schon so entwickelt, dass auch LeserInnen mit nur geringer detektivischer Begabung herausfinden können, welcher Name hinter dem Blog steht. Spätestens seit dem zweiten Blogeintrag, der in einem auflageschwachen Printmedium veröffentlicht wurde, ist das kein anonymer Blog mehr.
Die vor einem Jahr aufgeflackerte - und dann schnell wieder eingeschlafene - Diskussion um Kirche und Sexualmoral war ebenso Thema wie die Frage der Kinderfreundlichkeit unserer Gesellschaft. Sehr persönliche Gedanken über die virtuelle Realität und über die Rolle traditioneller Feste in unserer Gesellschaft haben dem Blog schon Ende 2008 den ersten Abonnenten beschert - bis heute habe ich keine Ahnung, wer das ist ... vielleicht der Spitzel aus dem Schulamt?
Im Jänner prägte eines meiner Lieblingsaufregerthemen die Diskussionen: Atheismus - oder das, was sich dafür hält. Die Diskussionen um LehrerInnenarbeitszeit schlugen sich ebenso im Blog nieder wie persönliche Erfahrungen und Erlebnisse - die offenbar weitere LeserInnen anlockten.

Eines hat sich nicht verändert, seit November 2008: Was nun weiter mit diesem Blog werden soll, das weiß ich immer noch nicht. Das wird sich im Laufe des zweiten Jahres zeigen.

Mittwoch, 11. November 2009

10 Jahre danach - 10 años después II

Jetzt hab ich schon vorige Woche vom 5. November 1999 erzählt, jetzt kann ich mir den 12. November 1999 natürlich nicht ersparen:
Für diesen Tag verzeichnet mein ewiger Revolutionskalender:
"1999 - Renuncia Francisco Barnés a la rectoría de la UNAM."
Wäre doch eine Herausforderung für die Protestbewegung, oder?
Muss ja nicht Winckler sein, der Rektor der Kunst-Uni würd fürs erste auch reichen!

Donnerstag, 5. November 2009

10 Jahre danach - 10 años después

Ich erinnere mich noch gut an den 5. November 1999 - ich studierte damals an der bestreikten Universidad Nacional Autónoma de México: die Straßen von Mexico-City, insbesondere der Periférico (das kann man sich so vorstellen wie Gürtel, Tangente, und S1 zusammen und das Ganze dann mal vier) waren gesperrt, weil die streikenden Studierenden der UNAM zum zweiten Mal zu einem Demonstrationszug aufgerufen hatten.

Von einem konkreten Anlass ausgehend haben die Studierenden im Frühjahr 1999 die Universität bestreikt, um über den konkreten Anlass hinaus gegen eine Verwirtschaftlichung und Vermarktung von Bildung zu protestieren, mit der unweigerlich eine Privatisierung und letztlich ein Vorbehalten der Bildung für jene, die es sich leisten können, einhergegangen ist.

Die Geschwindigkeit, mit der politische Entwicklungen von Amerika nach Europa kommen steigt seit den 90er-Jahren beständig - die Geschwindigkeit, mit der sie hier bei der Bevölkerung ankommen ist allerdings unverändert langsam.

Am 5. November 2009 machen die österreichischen Studierenden etwas Ähnliches. Die Gesetze, die Grundlage für all das sind, wogegen protestiert wird, sind fünf bis sieben Jahre alt - die politischen Diskussionen, die zu diesen Gesetzen geführt haben, sind acht bis zwölf Jahre her (bereits BM Einem hat den Einstieg in den Bologna-Prozess eingeläutet). Schade, dass das nicht vor 10 Jahren passiert ist.

Mittwoch, 4. November 2009

Anfragen an die Befreiungstheologie in Europa

Vor einem befreiungstheologischen Publikum wäre es wahrscheinlich peinlich, jedenfalls aber riskant, mit den Grundfragen der Theologie der Befreiung anzukommen und ernsthaft in die Runde zu fragen:
Befreiung - wovon?
Befreiung - wozu?
Wer sich heute nach der Rolle der Theologie der Befreiung in Europa frägt, muss zwangsläufig feststellen: Zwar ist der proklamierte Tod der Theologie der Befreiung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ausgeblieben, aber er scheint jetzt zu kommen, unmittelbar nachdem die Finanz- und Wirtschaftskrise allen KritikerInnen von Neoliberalismus und Globalisierung ein vorübergehendes Hoch beschert hatte. Es scheinen nun wiederum genau jene politischen Kräfte im Aufwind zu sein, deren Hauptanliegen es ist, den Urhebern der Krise freie Hand zu lassen und neues Kapital zu sichern. Möglicherweise war diese Krise doch nicht so final, wie es Leonardo Boff konstatiert hat, oder wir bezahlen heute alle dafür, dass diese Finalität noch ein bisschen hinausgezögert wird. In jedem Fall scheint das kurze Zeitfenster, während dessen im öffentlichen Diskurs Raum für Ansätze von Globalisierungskritik, Befreiungstheologie, Schöpfungsverantwortung und andere grundlegende Sozialfragen war offenkundig zu kurz, um nachhaltig Themen darin zu platzieren.

Grundsatzfragen gefragt!

Das wirft die Befreiungstheologie natürlich auf die Frage nach der Positionierung während und nach der Krise. Die Fragen nach dem Ursprünglichen, nach dem Grundsätzlichen einer Denkrichtung sollen immer ihren Raum haben - sie nehmen die Rolle des Stachels im Fleisch ein, an den man sich zwar bisweilen gewöhnen kann, der sich dann aber immer wieder schmerzlich in Erinnerung ruft und vor dem Abgleiten in den Fundamentalismus schützen will.

Wozu also Befreiung? Einige vielleicht fatalistisch-oberflächliche Gedanken dazu:
Es geht um die Armen - Jon Sobrino bringt das immer wieder in Abwandlung einer auf Cyprian von Karthago zurückgehenden Formel zum Ausdruck: extra pauperes nulla salus.
Ethische Spitzfindigkeiten wie die Frage danach, wer die Armen befreit (wir? sie selbst? Gott? alle zusammen?) will ich einmal bei Seite lassen und direkt auf das Ziel der Befreiung kommen:
Wenn es um die Befreiung für die Armen geht, dann müssen wir uns die Frage erlauben - wenn die Armen befreit sind von den Sorgen der Armut, der Unterdrückung, der Ausbeutung ... was erwartet diese Menschen dann? Doch wohl nicht neue Sorgen: Die Sorge um den Besitz, Sorge um das Eigentum? Könnte man womöglich sogar zynisch (und wie gesagt oberflächlich-fatalistisch) der europäischen Befreiungstheologie nicht vorwerfen, nur ihre eigenen Sorgen in die Welt der Armen exportieren zu wollen?
Hab ich mein Auto zugesperrt, wo ist meine Geldbörse, warum sind die Zinsen so niedrig, ist mein Fahrrad gut angekettet oder sieht es klapprig genug aus, sodass niemand es stehlen würde, komme ich auch pünktlich zur Arbeit, wird das Finanzamt auf meinen Nebenverdienst stoßen, was denken meine Kollegen über mich, werde ich beruflich weiterkommen oder werde ich dazu einen Zahnersatz brauchen?
Diese Fragen erinnern an die Geschichte vom Manager und vom Fischer, die im Internet kursiert:

Ein New Yorker Börsenmakler stand in einem kleinen mexikanischen Fischerdorf am Pier und beobachtete, wie ein kleines Fischerboot mit einem Fischer an Bord anlegte. Er hatte einige riesige Thunfische geladen. Der Amerikaner gratulierte dem Mexikaner zu seinem prächtigen Fang und fragte wie lange er dazu gebraucht hatte. Der Mexikaner antwortete: “Ein paar Stunden nur. Nicht lange.” Daraufhin fragte der Manager, warum er denn nicht länger auf See geblieben ist, um noch mehr zu fangen. Der Fischer sagte, die Fische reichen ihm, um seine Familie die nächsten Tage zu versorgen. Der Makler wiederum fragte: “Aber was tun sie denn mit dem Rest des Tages?” Der mexikanische Fischer erklärte: “Ich schlafe morgens aus, gehe ein bisschen fischen, spiele mit meinen Kindern, mache mit meiner Frau Maria nach dem Mittagessen eine Siesta, gehe in das Dorf spazieren, trinke dort ein Gläschen Wein und spiele Gitarre mit meinen Freunden. Sie sehen, ich habe ein ausgefülltes Leben.”
Der New Yorker erklärte: “Ich bin ein Harvard Absolvent und verdiene eine Menge Geld darin, Leute zu beraten. Ihnen helfe ich gerne kostenlos weiter. Sie sollten mehr Zeit mit Fischen verbringen und von dem Erlös ein größeres Boot kaufen. Mit dem Erlös hiervon wiederum könnten sie mehrere Boote kaufen, bis sie eine ganze Flotte haben. Statt den Fang an einen Händler zu verkaufen, könnten sie direkt an eine Fischfabrik verkaufen und schließlich eine eigene Fischverarbeitungsfabrik eröffnen. Sie könnten Produktion, Verarbeitung und Vertrieb selbst kontrollieren. Sie könnten dann dieses kleine Fischerdorf verlassen und nach Mexiko City oder Los Angeles und vielleicht sogar New York umziehen, von wo aus sie dann ihr florierendes Unternehmen leiten.”
Der Mexikaner hatte aufmerksam und schweigend zugehört: “Und wie lange wird dies dauern?” – “Hmmm…”, überlegte der Manager, “So etwa 15 bis 20 Jahre.” Der Mexikaner fragte: “Und was dann, mein Herr?”

Der Amerikaner lachte und sagte: “Dann kommt das Beste. Wenn die Zeit reif ist, könnten sie mit Ihrem Unternehmen an die Börse gehen, Ihre Unternehmensteile verkaufen und sehr reich werden. Sie könnten Millionen verdienen.” Der Fischer schüttelte unglaubwürdig den Kopf. “Millionen? … Und was dann?”

“Dann könnten sie aufhören zu arbeiten! Sie könnten in ein kleines Fischerdorf an der Küste ziehen, morgens lange ausschlafen, ein bisschen fischen gehen, mit Ihren Kindern spielen, eine Siesta mit Ihrer Frau machen, in das Dorf spazieren gehen, am Abend ein Gläschen Wein genießen und mit Ihren Freunden Gitarre spielen.”
(http://www.andersdenken.at/story-und-was-dann/)
Diese Geschichte liefert vielleicht einen Anhaltspunkt zum Weiterdenken, aber es ist jetzt nicht mein Ziel, diese Fragen zu beantworten. Das könnte ich wahrscheinlich auch garnicht. Darüber nachzudenken und zu diskutieren halte ich allerdings für unerlässlich, denn eine Idee, die aufhört, sich selbst zu hinterfragen, verkommt unweigerlich zur Ideologie.

Aufgabe der Befreiungstheologie heute?

Es wird niemand bestreiten, dass es immer Aufgabe der Theologie der Befreiung sein wird, bei den Armen zu sein. Es wird aber immer wieder auch notwendig sein, das Ziel dieses Beisammenseins zu hinterfragen und fallweise auch neu zu bestimmen. Dabei will ich garnicht auf die hinlänglich bekannten Gefahren von Paternalismus, Exotismus und anderen Formen wohltätiger Selbstbefriedigung eingehen, obwohl auch die immer wieder zur Diskussion gestellt werden sollten.
Vielmehr stellt sich die Frage, was heutige Ziele der Befreiungstheologie sein können, sollen, müssen - oder systematischer: worin aus heutiger Sicht ein Programm der Theologie der Befreiung bestehen könnte.
  • Ob die Befreiung von der Armut im wirtschaftlichen Sinn ein solches Ziel sein kann (bzw. jemals war) ist mehr als fraglich: Strukturell organisierte, eingespielte und festgefahrene Ausbeutung kann und will vermutlich niemand hinnehmen, dem Theologie der Befreiung ein Anliegen ist. Teils haben sich die Formen von Unterdrückung verändert - teils auch wiederum nicht. Ausbeutung passiert immer noch, in manchen Bereichen haben nur die Ausbeuter ihr Verhältnis zur Politik neu geordnet - die Ausbeuter aus der Wirtschaft haben die Ausbeuter und Unterdrücker aus der Politik teilweise abgelöst, teilweise diese selbst unterjocht.
  • Das nordamerikanische Christentum, das sich durch seine Selbstkommodifizierungstendenzen aus unserer Sicht zum Komplizen des Neoliberalismus gemacht hat, dringt vor allem mit der gezielten Jenseitsvertröstung erfolgreich in die Welt der Armen vor.
  • Komplexität und Verstrickung sind meist derart fortgeschritten, dass strukturelle Förderung oft in den Bereich der Unmöglichkeit rutscht und gar nicht mehr erwünscht ist - Arme wollen womöglich nicht befreit werden, sondern sie erwarten, dass man ihnen das Armsein, das Ausgebeutet-werden erträglicher macht - was Evangelikale zu bieten haben, Befreiungstheologen aber kaum guten Gewissens bieten werden können. (Klassisches Beispiel: Kinderarbeit!).
Was kann also eine (europäische) Theologie der Befreiung heute tun?

Eine hoffentlich unvollständige Liste von Optionen

Konzentration auf Europa: Häufig wird die Ansicht vertreten, die Aufgaben der Theologie der Befreiung wären heute mehr als wo anders hier vor Ort zu suchen und zu finden. Armut wird in Mitteleuropa ein immer bedeutenderes Thema, die Bildungspolitik tritt jegliches intellektuelle Potential mit den Füßen, die zunehmende Zahl an nicht mehr diskutierbaren Fragen, die Werte und Normen auf dem Weg zu einer neuen Form von radikalem Utilitarismus und nicht zuletzt die Wohlstandsverwahrlosung, Vereinsamung und Sinnleere böten ja tatsächlich genug Aufgaben, denen sich moderne, europäische Befreiungstheologie stellen könnte. Da ist es - so hört man bisweilen - garnicht wirklich nötig, die Armut in anderen Ländern als Betätigungsfeld zu beanspruchen.
Konzentration auf Strukturfragen: Immer wieder kommt die Tendenz zu tragen, dass man sich doch nicht im unüberschaubaren Sumpf der verschiedensten Basisgemeinden seine Kräfte rauben sollte, sondern vielmehr gebündelt gegen die strukturelle Unterdrückung vorgehen müsste. Die Exodus-Geschichte muss hier oft Pate stehen für politische Revolutionsphantasien und das Ägypten von heute - der Welthandel? - wird zum Feind des Gottesvolkes, nicht der einzelne Ägytper, der an der Unterdrückung verdient. Das macht auch durchaus mehr Sinn, als wie Sisyphos einzelne Steine den Berg hinauf zu rollen.
Konzentration auf konkrete Entwicklungshilfe: Die Gegentendenz stellt wieder das einzelne Projekt in den Vordergrund, es geht darum, an möglichst vielen einzelnen Punkten Entwicklungshilfe zu ermöglichen und zu leisten. Dabei sollten theologische, politische und vor allem ideologische Programme in den Hintergrund treten.

Pluralismus als Zukunftsstrategie

Die vorgeschlagenen Ausrichtungen von befreiungstheologischer Arbeit haben alle ihre Stärken und - solange sie alleine für sich betrachtet werden - auch ihre Fehler. Eine gegenwärtige Theologie der Befreiung muss sich darauf einrichten, diese und andere Strategien neben- und miteinander ohne Unterschied in der Wertigkeit und mit einem viel höheren Grad an Vernetzung zu fördern und zu betreiben. Dazu ist ein theoretisches Fundament ebenso unverzichtbar wie eine massive Steigerung an Kommunikabilität und Vermittlungsarbeit.
Es müssen neue Felder erschlossen werden, sowohl regional, wie auch sektoral und fachlich-theoretisch. Als erstes aber muss die Theologie der Befreiung kommuniziert werden und kommunizierbar gemacht werden. Befreiungstheologie gehört in die Religionspädagogik ebenso wie in die Pfarrgemeinden und vor allem auch in die Medien.

Selbstkritik und Selbstreflexion

Ist das nicht eigentlich eh schon so? Auf den ersten Blick scheinen diese Impulse faktische Nullstellen zu sein, die einen Zustand fordern, der ja ohnehin herrscht. Tatsächlich werden unterschiedlichste Initiativen befördert und die Aktiven in hochländischen Kleinbauernkooperativen unterschreiben brav jede ATAC-Petition, kaum ein Lateinamerika-Aktivist, der nicht auch ein Auge auf die Situation in Europa hätte und die Zusammenarbeit zwischen Organisationen, die unterschiedliche Anliegen befördern, existiert ja auch.
Doch stimmt das wirklich?
  • Wenn ich Unterricht zu Themen der Befreiungstheologie vorbereite, lande ich letztlich immer beim Material sozialistischer und kommunistischer Organisationen, während die durchaus auch existierenden Materialien der kirchlichen Einrichtungen in irgendwelchen Regalen stehen.
  • Wenn nicht Leo Maasburg mit einem unqualifizierten Rundumschlag gegen die Befreiungstheologie auf sich aufmerksam gemacht hätte, wäre die regelrechte Umvolkung bei Missio Austria an einem Großteil der befreiungstheologischen Szene spurlos vorübergegangen.
  • Die Weiterentwicklung der befreiungstheologischen Theorie hat sich (Hand in Hand mit Teilen - oder Überresten? - der intellektuellen Linken) aus dem ideologieübergreifenden Deutungshorizont verabschiedet und scheint in eine Phase der Kommodifizierung zu treten, in der weder der wegbrechende Dialog mit dem Sozialismus noch der längst eingeschlafene Dialog mit dem übrigen Christentum als Mangel empfunden werden.
  • Wenn Befreiungstheologie in einer breiten Öffentlichkeit thematisiert wird, dann ist das in den meisten Fällen der Verdienst der Glaubenskongregation.




Sonntag, 1. November 2009

Neue Ethik - neue Spiritualität


Der ÖH an der Katholisch-Theologischen Fakultät ist diesem Herbst ein Coup gelungen, den ihr nicht so schnell jemand nachmachen können wird. Nach turbulenter Vorgeschichte holte man Leonardo Boff an die Uni - in Kooperation mit der DKA und der Schwestern-FV und mit den beiden Fakultätsleitungen. Dieser Blog hat schon vom Zustand des Hörsaals, der dafür vorgesehen war (der größte unserer Fakultät) berichtet, auch von der Übersiedlung in einen anderen Hörsaal. (Hier zur Illustration noch ein Bild von Hörsaal 47 [(C) Florian Mayr])
Krise und Co.
Der Vortrag begann wie der Auftritt eines Pop-Stars - man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Begeisterung der Massen (wie selten man dieses Wort für eine Veranstaltung an unserer Fakultät verwenden kann!) auch nicht gebrochen wäre, wenn Boff begonnen hätte "Alle meine Entlein" zu singen.
Anfangs war man fast geneigt, so etwas zu erwarten: Inhaltlich auf der Ebene eines mittelmäßig aufmerksamen Nachrichtenkonsumenten schilderte Boff die gegenwärtige Krise, oder besser, das gegenwärtige Krisenkonglomerat. Doch schon bald wurden die grauen Zellen wirklich gefordert und aus dem, was zuerst nach der Einstimmung auf ein Miss-America-Plädoyer für Weltfrieden klang, wurde handfeste Regierungskritik: Die Art und das Ausmaß der Krise im Verhältnis zum System wurden angefragt und erläutert - mit dem Schluss, dass jeder vernünftigen Systemtheorie nach diese Krise eine finale sein sollte, die dieses System in seinen Grundfesten erschüttert und infrage stellt. Ob das so stimmt und ob die Politik nicht gerade dafür verantwortlich ist, dass Opfer der Krise zu Systemerhaltern werden, das blieb leider offen und ist möglicherweise nur ein US-Amerikanisch-Europäisches Problem.
Relationen und Konsequenzen
Spannender wurde es ohnehin, als Boff begann, ein wenig "aus dem Nähkästchen" zu plaudern und das Auditorium an seinen Erfahrungen vor allem mit UN-Gremien teilhaben ließ. Die Perversität mancher Zahlenrelationen (etwa Rüstungsausgaben versus Hunger) bewusst zu machen war der nächste Schritt. Die Gaia-Hypothese von Lovelock eignet sich hervorragend dazu, diese Relationen zu einem ethischen Imperativ umzubauen und genau das tat Boff: Die Erde als lebender Organismus, der unter der parasitären Symbiose mit den Menschen leidet - Klimaerwärmung, Abfischung, Abholzung, ... - also doch eine Miss-America-Ansprache? Mitnichten!
Spirituelle Dimensionen
Wenn Religion als anthropologische Grunddimension gelten soll, dann müssen wir in der Lage sein,auch Spiritualität als eine im Menschen von Natur aus angelegte Verfasstheit zu definieren und zu beschreiben.
Spiritualität ist in jedem Fall die im Menschen verankerte Opposition zu Markt, Ausbeutung und Unterdrückung. Boff verdeutlichte, wie sehr es heute darauf ankommen würde, dass die gesamte Kirche, alle Kirchen und alle Religionen sich für die Pflege und Wiederentdeckung dieser menschlichen Dimension stark machen.
Auf dieser Ebene setzt Boff auch das ethisch-moralische Engagement an, das er für einen konstruktiven Ausgang dieser Krise für notwendig hält:
* Lösung vom Ohnmachtsgefühl des "Nichts-Tun/Bewirken-Könnens" durch eine Stärkung des Selbstbewusstseins: Wer sich selbst als Teil der Welt wahrnimmt, wird erkennen können, dass er zwar nicht die Welt ändern kann, aber einen Teil davon, der er selbst ist.
* Wahrnehmung von Zusammenhängen: Wenn ich mich selbst ändere, ändere ich alles, was mit mir zu tun hat - meine Umgebung wird anders.
Wir und die Welt
Das bringt mich zu den abschließenden Fragen: Die zentralen christlichen Werte von Solidarität mit den Armen, Schöpfungsverantwortung und Nachhaltigkeit wurden im Christentum im Laufe seiner Geschichte bisweilen vernachlässigt und u.a. zugunsten plumper Moral zurückgedrängt. Dass diese Werte heute nicht mehr nur christliche sind, sondern - eine kleine Anleihe bei Küng? - über die Grenzen von Religionen und Ideologien hinausgehen, das kann als Subtext des gesamten Vortrages gesehen werden. So gesehen muss man manchen Herrschaften dankbar sein, dass sie das in der Fragerunde noch einmal deutlicher herausgearbeitet haben.

(Leonardo Boff mit Franz Helm beim Vortrag im HS 33 der Universität Wien -

mit freundlicher Genehmigung der Fakultätsvertretung
; (c) P. Christian Tauchner)

Hinweis: Auf der Internetseite der Fakultätsvertretung Katholische Theologie der Universität Wien findet sich der Vortrag zum Nachhören!