Sonntag, 17. Juli 2011

Atheismus als Religion

Eine alte Binsenweisheit unter TheologInnen ist, dass man mit ein wenig Diskussionsaufwand fast alle AtheistInnen auf AgnostikerInnen runterverhandeln kann. Die meisten Menschen, die sich selbst als AtheistIn bezeichnen würden, sind in keiner Weise religiös - warum sie sich dann trotzdem einer Religion anschließen, ist ihnen oft selbst nicht erklärlich, sobald sie es begriffen haben. Die, die es von Haus aus begreifen, nenne ich jetzt einmal gleich pauschal AgnostikerInnen.

Was ist Agnostizismus?
Auf dem Niveau durchschnittlichen Schulwissens, das man haben könnte, wenn man nicht bei der Auswahl von Pflichtfach / Freifach gegen Freistunde nach den Kriterien eines falsch verstandenen Hedonismus entschieden hätte, könnte man den Agnostizismus so erklären: Menschen ist das Wissen darüber, ob es irgendetwas Transzendentes (das heißt, unsere Wirklichkeit entweder Übersteigendes oder außerhalb von ihr Liegendes) tatsächlich gibt, verborgen. Sie können es nicht wissen, denn könnten sie es, dann wäre besagtes Irgendetwas nicht mehr transzendent. Während religiöse Menschen durch die eigene Erfahrung oder die Erfahrung anderer, der sie vertrauend Glauben schenken, zur Überzeugung kommen, dass es dieses Transzendente geben muss und dass dies wiederum Auswirkungen auf ihr Leben hat, haben AgnostikerInnen diese Erfahrung nicht und vertrauen auch nicht (oder nicht mehr) auf das Zeugnis anderer. Es bleibt also bei der Erkenntnis, dass man darüber nichts wissen kann. Das gibt nun diesem Denkweg auch den Namen: a griechisch für "nicht" und gnoein für "wissen". Die relativ logische (wenn auch postulatorische) Schlussfolgerung daraus ist dann, dass etwas, worüber ich nicht wissen kann, auch keinen Einfluss auf mein Leben und Handeln haben kann. Dieses Postulat ist eine intellektuell redliche Denkbewegung, der man auch als religiöser Mensch im Grunde genommen nichts entgegenzuhalten hat und - was noch wichtiger ist - der man auch nichts entgegenhalten muss, denn AgnostikerInnen, die ihre Haltung konsequent durchdacht haben, sind dann auch religiösen Menschen gegenüber zu Toleranz befähigt und sofern sie mit den Konsequenzen derer Religiosität übereinstimmen durchaus auch positiv eingestellt. Das Nicht-Wissen schließt einfach die Möglichkeit nicht aus, Religiösem mit Respekt zu begegnen.


Glauben und Wissen
Die Kenntnis von Agnostizismus ist die erste Voraussetzung. Die zweite Voraussetzung lässt sich relativ leicht verstehen, wenn man verstehen will: Es geht um die Unterscheidung von Gläubigkeit und Fundamentalismus - Glauben und Wissen. Oberrabiner Paul Chaim Eisenberg hat dazu im Rahmen eines Beitrags zum 3sat-Thementag "Im Namen Gottes" (6.1.2007) eine sehr kompakte Erklärung geliefert:  
 "In jeder Religion gibt es Gläubige und Fundamentalisten. Der Gläubige glaubt an seine Religion, der Fundamentalist weiß schon alles." (freihändig zitiert)


Atheismus als Glaube
Dementsprechend besteht nun die denkbare Möglichkeit, dass eine Person daran glaubt, dass es keine (wie auch immer geartete) Gottheit im Sinne des Theismus gibt. Das wäre dann im engsten und präzisesten Sinn als Atheismus zu bezeichnen. Daher bezeichnet man übrigens auch den Buddhismus völlig korrekt als atheistische Religion.
Der philosophische Atheismus geht einen Schritt weiter, indem jegliche Form von Transzendenz als Nichtexistenz angesehen wird. Letztlich handelt es sich hier aber genauso um einen Glauben, dessen Glaubensinhalt eben in darin besteht, dass es Transzendenz an sich nicht gibt.


Woran glauben AtheistInnen?
Das alles beschreibt aber nicht die Realität des heutigen Atheismus, wie ich sie wahrnehme - und ich gehe dabei jetzt von persönlichen Diskussionen und meiner Lektüre aus, daher kann ich eine gewisse Unschärfe nicht ausschließen, auch wenn ich vermute, ziemlich nah am Kern der Sache zu sein.
Das Hauptmerkmal der mir bekannten atheistischen Literatur spiegelt sich auch in den Diskussionen rund um dieses Thema wieder:
AtheistInnen haben ein sehr konkretes, oft sogar detailliertes Gottesbild. Die Gottesvorstellungen etwa eines Richard Dawkins sind derart, dass man ihn in einem christlichen Kontext wohl als verschrobenen Fundamentalisten einstufen müsste. Gläubige ChristInnen können ehrlicherweise Dawkins nur zustimmen, denn es ist letztlich auch ihre Glaubensüberzeugung, dass es einen solchen Gott, wie er ihn beschreibt, tatsächlich nicht gibt. Der induktive Fehlschluss Dawkins tritt dadurch noch deutlicher hervor: Daraus, dass es den Gott Dawkins nicht gibt (wobei ich ihm nur aus voller Überzeugung zustimmen kann), folgert er, dass es keinen Gott gibt.

Ein zweites Merkmal:

AtheistInnen lehnen oft lediglich eine bestimmte Religion ab. Dabei handelt es sich meist um die historisch und/oder aktuell dominante Mehrheitsreligion ihrer geographischen Heimat, sehr oft um die Religion ihrer Eltern und Großeltern, häufig um eine der westlichen Weltreligionen (da Atheismus ja ein westliches Sonderphänomen moderner Industriestaaten ist - wenn nicht überhaupt ein westeuropäisches Phänomen), selten bis nie um fernöstliche Religionen. (Die Berührungspunkte zum Laizismus zu erörtern, die sich daraus ergeben, würde jetzt zu weit führen).


Fundamentalistischer Atheismus
Obwohl die offiziellen Bücher von "militantem" oder "aggressivem" Atheismus sprechen, um einen Unterschied zu machen zwischen den Philosophen Feuerbach, Freud, Marx und Nietzsche einerseits und dem Sammelsurium aus Biogenetikern, talentarmen Publizisten, Zeichnern, Wirtschaftsjuristen etc. des "New Atheist Movement" andereseits, bevorzuge ich die Bezeichnung Fundamentalismus, und es sind durchwegs atheistische Dawkins-Kritiker, denen ich diese Benennung in dem Zusammenhang verdanke.
Der fundamentalistische Atheismus unterscheidet sich in seiner Art nicht von den Fundamentalismen anderer Religionen: Strenger Dogmatismus, minimale Sachkenntnis (fehlendes Hintergrundwissen wird kurzerhand für irrelevant erklärt), missionarischer Verbreitungseifer, Abstreiten des religiös-spekulativen Charakters der eigenen Anschauungen, die als gesichertes Wissen und feststehende, erwiesene Tatsachen erachtet werden.
Nicht nur in persönlichen Diskussionen gehen fundamentalistische AtheistInnen so weit, nur ihren Geschwistern innerhalb der Religion, die sie ablehnen, überhaupt richtige Religiosität zuzusprechen: Personen, deren Orthopraxie nicht dem von ihnen abgelehnten Muster entspricht, werden nicht als vollwertige Gläubige der anderen Religion anerkannt. Den Kriterien entsprechen wiederum nur die FundamentalistInnen der anderen Religion. So ergibt sich ein fundamentalistischer Schulterschluss zwischen den Religionen (zu denen ich - inzwischen hoffentlich ausreichend erklärt - auch den Atheismus zähle).
Gerade im Zusammenhang mit dem Atheismus ist das hochgradig absurd, weil sich die meisten AtheistInnen meines Bekanntenkreises selbst als sehr liberal und freigeistig bezeichnen würden, zugleich aber innerhalb der anderen Religionen gerade liberaler, wissenschaftlich fundierter und reflektierter Glaubenspraxis die Gläubigkeit absprechen. So kommt es, dass die Dawkins-Stellvertreter im deutschsprachigen Raum (Schmidt-Salomon, Burkahrd Müller, Alm, Misik, etc.) sich als selbsternannte Führer und Sprecher einer religiösen Weltanschauung betätigen, die humanistisches Denken in die Lebenspraxis umsetzen zu wollen vorgibt, tatsächlich aber zur Stärkung des Fundamentalismus innerhalb anderer Religionen beiträgt. (Unter anderem etwa indem sie - das würde jetzt zu weit führen - reflexionsresistenten Ideologien wie dem Laizismus das Wort reden).


Was macht nun Atheismus zu einer Religion?
Wenn das so eindeutig wäre, dann würde ich diesen Eintrag hier garnicht schreiben. Daher im Folgenden eine Auflistung der Gründe und Indizien, die ich persönlich für ausreichend halte, um den Atheismus als Religion zu bezeichnen:


1) Der Glaube an das Nicht-Existieren einer theistischen Gottheit bzw. von Transzendenz überhaupt ist für sich alleine genommen weltanschauliches Dafürhalten. Es ist Glauben im Sinne des für-wahr-Haltens und nicht Glaube im religiösen Sinn. Das kann, muss aber nicht teil eines religiösen Vollzugs sein. Gewinnt dieser Glaube aber den Stellenwert einer missionarisch weiterzugebenden Überzeugung, muss man ihn nolens volens als Bestandteil eines religiösen Systems ansehen. (Das würde auch gelten, wenn ich eine private Leidenschaft etwa für den exklusiven Verzehr veganer Speisen auf diese Art auslebe.)


2) Die Bildung von Gemeinschaften ist in manchen Definitionen konstitutives Element von Religion. Da ich bei allen übrigen Themen diesen Definitionen zustimme, muss ich das wohl auch in diesem Zusammenhang tun: Die verschiedenen Bünde und Vereinigungen des Atheismus (zum Teil unter dem Namen des Humanismus laufend) erfüllen dieses Kriterium längst, auch wenn oder gerade weil sie etwa in ihrer Haltung zum atheistischen Fundamentalismus durchaus Unterschiede haben. (Dawkins wird im englischsprachigen Raum von den meisten atheistischen Vereinigungen wegen seines Fundamentalismus als schädlich angesehen, während er im deutschsprachigen Raum annähernd Papst-Status genießt.)


3) Die Schriften von Dawkins und Darwin (Marx liest kaum jemand, Marx zitiert man nur) können als heilige Schriften angesehen werden, Kritik daran ist kaum zulässig.


4) Ähnlich der hochmittelalterlichen, katholischen Kirche gilt auch im Atheismus für den präferrierten Erkenntnisweg Ausschließlichkeit. Während man damals glaubte, in der Bibel alle Erkenntnis schon vorliegen zu haben, gilt im Atheismus diese Voraussetzung für "die Naturwissenschaft" - wer epistemologische Grenzen der Naturwissenschaft anspricht (also etwa die Tatsache, dass es die eine Naturwissenschaft nicht gibt, dass jegliche Naturwissenschaft nur das Erkenntnispotential hat, das ihre Fragestellung, ihre ForscherInnen und ihre Methoden zulassen, ...) wird als KetzerIn angesehen.


5) Verehrung von realen oder angenommenen Glaubensvorbildern: Giordano Bruno, Galileo Galilei, Charles Darwin, teilweise auch in vollkommenem Missverstehen Immanuel Kant und Karl Marx werden als Heilige des Atheismus verehrt.


6) Starker Fundamentalismus kann als Zeichen einer jungen, entstehenden Religion gedeutet werden (dazu habe ich mich schon einmal in einem anderen Blogbeitrag geäussert).


7) eng damit im Zusammenhang: Aggressive missionarische Tätigkeit und Bekämpfung anderer Religionen, insbesondere der als mögliche Kooperationspartner nicht verfügbaren Mehrheitsreligionen. Dem Wahrheitsanspruch der eigenen Religion widerstrebt sowohl die Anerkennung anderer Religionen wie auch die kooperative Mitwirkung an einem interreligiösen Dialog und an einem allgemeinen Grundkonsens. (Dieser Gedanke ist Vater der in Ostdeutschland zum Teil bereits umgesetzten und in Österreich geforderten Bestrebungen, unter dem Deckmantel eines Ethikunterrichts den atheistischen Religionsunterricht auch für Andersgläubige verpflichtend zu machen - darauf laufen ausnahmslos alle für diesen Zugang vorgebrachten Argumente hinaus, das kann man auch gerne nachprüfen).

8) Die Dogmen des Atheismus, die letztlich sachliche Diskussionen schlichtweg overrulen, Argumente anderer durch ihre Glaubenautorität entwerten, stellen letztlich einen Anspruch auf die Definitionsmacht über die Wirklichkeit. Das definiert zwar nicht Religion, ist aber Kennzeichen von (nicht nur, aber auch) religiöser Ideologie. Resistenz gegen Ideologiekritik ist hier vorprogrammiert.


Fazit:
Im Endeffekt wird es nicht gelingen, ohne Rückgriff auf dogmatische Aussagen, Atheismus als etwas anderes zu sehen als Religion. Der Atheismus hat seine Gläubigen und seine FundamentalistInnen, seine heiligen Personen und Schriften, seine missionarischen Eiferer, seine religiösen Führer und Idole, seine Dogmen und seinen Wahrheitsanspruch.
Nun wäre das ja aus der Sicht eines katholischen Theologen - also aus meiner Sicht - nicht wirklich ein Problem. Die Tatsache, dass es sich um eine
  • stark fundamentalismusanfällige, 
  • reflexionsresistente 
  • und dem kapitalistisch-individualistischen Menschenbild, das nur Arbeitskräfte und KonsumentInnen kennt, sehr gelegen kommende
Religion handelt, macht diese Erkenntnis eigentlich erst bitter.