Dienstag, 24. März 2009

Intellektuelle Inkontinenz und andere Plagen der Gegenwart

Es hatte alles so schön angefangen, als der 15jährige Omar auf seinem Schulweg den üblichen Schwenk zum Café um die Ecke machte. Es gab ihm jedes Mal einen Kick, nicht für die zwei Stationen zur Schule noch in die Straßenbahn zu steigen, sondern dorthin abzubiegen, wo kein Lehrer je vorbeikam und seine Freunde meist schon auf ihn warteten.
Und es wäre auch gut weitergegangen: Seine Freundin - war sie das noch? - wäre ihm erspart geblieben, und er hätte sich nicht ihren Fragen aussetzen müssen, ihrer eindringlichen Forderung nach Ehrlichkeit über die Party letzten Samstag. Und vor allem: die Schule wäre an ihm vorbeigegangen, er wäre nie mit so dummen Dingen wie dem logischen Denken der Mathematik belastet worden, niemand hätte ihm irgendwelchen Unsinn darüber erzählen können, was die inzestgeschädigten Adelshäuser vor hunderten Jahren so alles an Kriegen angezettelt haben, auch das völlig unnütze Wissen über die Kreuzung von Pflanzenarten hätte ihm niemand aufdrängen können und die ewigen Herumreitereien auf Groß- und Kleinschreibung, harten und weichen Lauten, die ihm ja dieses Schuljahr eigentlich eingebrockt haben, wären ihm auch erspart geblieben. Kein Religionslehrer hätte ihm erzählen können, was alles nicht im Koran steht, obwohl er aus seiner Familie doch wusste und sah, dass es zu seiner Religion und zu seinen Pflichten gehört. Dann diese Referate von geschniegelten und gestriegelten Mitschülern in irgendwelchen Grufti-Klamotten, die sonst nur in ihren Death-Metal-T-Shirts in der Schule auftauchten - und sowas nennt man Persönlichkeitsbildung: Das Kriegsschiff "Bismarck", der Lebensraum der Python, die Geschichte der Habsburger. Dann noch diese ewig gleichen, gutgemeinten Ratschläge. Nein, das wollte er sich heute ersparen und hatte noch einen weiteren, schlagenden Grund dafür: Die englische Sprache, ihre Grammatik und die wohl schrecklichste Lehrerin, die man haben kann, die wollte er für heute einmal aus seinem Alltag verbannen.
Sein Ausbruch aus dem Alltag ist gehörig misslungen, weil andere aus ihrem Alltag ausgebrochen waren. Als er beim Café ankam, war die Tür geschlossen, die Stühle waren auf die Tische gekippt, der Raum war dunkel und weit und breit war niemand zu sehen. Fini, die Bedienung, war genausowenig da wie ihr Mann, der sonst immer in der Küche arbeitete. Drei Minuten stand er alleine da und war völlig aus dem Konzept geworfen, bis sein Freund hinzukam. Der machte ihn dann auf die Bedeutung des kleinen, gekritzelten Zettels an der Tür aufmerksam: "Wegen Todesfall geschlossen!"
Beide versuchten natürlich, vor dem jeweils anderen ihre Betroffenheit zu verbergen, und auch die Angst, es könne sich beim Todesfall um Fini handeln, weil keiner zugeben wollte, dass ihnen die Inhaberin des Cafés schon längst sehr ans Herz gewachsen war. In ihrer Orientierungslosigkeit beschlossen die beiden, zur Schule zu gehen. Wenn es gar keine brauchbare Alternative gibt ...