Sexueller Missbrauch und Gewalt in kirchlichen Einrichtungen in Deutschland und Österreich beschäftigt derzeit die Medien. Eine Stimmung macht sich breit, in der Vieles infrage gestellt wird. Zeit, das Problem und die Reaktionen einmal aus einer gewissen Distanz zu beleuchten.
Gleich vorweg: Es steht außer Streit, dass jeder einzelne Fall einer zu viel ist und nicht hätte passieren dürfen. Es steht auch außer Streit, dass die Aufmerksamkeit und Sorge dem Wohl der Opfer gelten muss - unabhängig davon, ob die Ereignisse Tage oder Jahrzehnte zurück liegen. Es steht auch außer Streit, dass der Umgang mit diesen Fällen und die Konsequenzen für die Täter eine deutliche Sprache sprechen muss, was vor allem bedeutet, dass bei aller vielleicht gebotenen Barmherzigkeit sicher zu stellen ist, dass diesen nicht neuerlich Aufgaben übertragen werden, die weitere Taten ermöglichen oder auch nur eine Versuchung dazu darstellen.
Worum geht es?
Die große Schwierigkeit bei diesem Thema besteht darin, dass man eigentlich nicht weiß, wovon die Rede ist. Die Schlagwörter Missbrauch und Gewalt sind zu pauschal und vieldeutig. Für eine allgemeine Befassung mit diesem Thema reicht es aber, festzustellen, dass alles, was auch nur annähernd unter diesen Begriffen subsummiert werden kann, in kirchlichen Einrichtungen nicht vorzukommen hat.
Es geht hier vielmehr um eine andere Frage: Wie soll Öffentlichkeit und Gesellschaft mit dem, was hier zutage tritt, umgehen? Wobei zu hoffen ist, dass Justiz und kirchliche Gerichtsbarkeit ohnehin wissen, was sie zu tun haben.
Austrittswelle in Sicht
Zu erwarten ist eine neuerliche Austrittswelle, die wahrscheinlich dieser Tage bereits losrollt. Logische Kurzschlüsse wie "ich zahle nicht für Kinderschänder" sind bereits im Internet verbreitet und stoßen erwartungsgemäß auf hohe Zustimmung, wie das bei einfachen Antworten ja immer der Fall ist.
Ist das der richtige Weg? Ganz im Gegenteil. Erstens schon einmal deshalb nicht, weil die dadurch dann fehlenden Kirchenbeiträge nicht denen fehlen, die man damit treffen will, sondern im Gegenteil völlig unbeteiligte - die Hauptamtlichen und Freiwilligen in den Pfarren, die Arbeit der Caritas in der Flüchtlingsbetreuung, Obdachlosenbetreuung und Altenpflege, die Arbeit der Hospizbewegung und die Arbeit anderer kirchlicher Einrichtungen. Weder Flüchtlinge, noch Obdachlose, auch nicht in Not geratene schwangere Frauen tragen irgendwelche Schuld an den Vorfällen - die Strafe jedoch gilt ihnen. Die Arbeit der hauptamtlichen und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen in den Pfarren hat mit den Vorfällen nichts zu tun - sie sollen aber draufzahlen?
Wem der Kirchenaustritt vollkommen egal ist
Die Kirchenaustritte sind schlecht für die Statistik, das stimmt. Insofern könnten sie dem Papst oder dem ein oder anderen Kurienkardinal ein kurzes Stirnrunzeln bereiten.
Ansonsten kann es denen vollkommen egal sein, weil die Gelder aus dem Kirchenbeitrag sieht der Vatikan ohnehin nicht, also fehlt ihnen auch nichts, wenn diese Gelder weniger werden.
Die Klöster - auffällig viele der Missbrauchsfälle haben sich im Umfeld von Ordenseinrichtungen ereignet - sind wirtschaftlich autark, das heißt, sie erwirtschaften das Geld, das sie brauchen, selbst: entweder durch Bewirtschaftung von Ländereien, durch die Arbeit ihrer Ordensmitglieder oder durch Spenden. Auch die Klöster bekommen von den Geldern aus dem Kirchenbeitrag nichts - auch ihnen wird nichts fehlen, wenn diese Gelder weniger werden.
Wem der Kirchenaustritt nützt
Wer hat dann eigentlich etwas davon, dass es nach solchen Enthüllungen zu den obligaten Austrittswellen kommt?
Zuerst einmal die grundsätzlich kirchenfeindlich eingestellten Kreise, allen voran der fundamentalistische Atheismus - ihnen spielen solche Ereignisse in die Hände und sie sind sich auch nicht zu schade, aus dem Leid der Opfer politisches Kleingeld zu schlagen.
Dann aber - und das sollte zu denken geben - profitieren hauptsächlich die Täter von der Austrittswelle. Diese Aussage bedarf einer genaueren Erklärung:
Zuerst muss man wissen: die römisch-katholische Kirche in Österreich ist der Arbeitgeber von 60.000 Menschen. Zu diesen zählen insbesondere hauptamtliche Pastoralassistentinnen und Pastoralassistenten, die in den Pfarren die seelsorgliche Arbeit des Pfarrers mittragen und unterstützen.
Schon lange hat sich in vielen Pfarren die Praxis eingelebt, dass diese Pastoralassistentinnen und Pastoralassistenten gemeinsam mit ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Ministrantinnen und Ministranten und vieles mehr zuständig sind. Viele Pfarrer halten sich aus diesen Bereichen aus verschiedenen Gründen weitgehend heraus.
Wenn nun die Beiträge weniger werden, wird es diese Angestellten zuerst treffen. Nun mag zwar jenen Menschen, die auf den Impuls solcher Missbrauchsfälle hin aus der Kirche austreten, die Tatsache relativ egal sein, dass deren Arbeit dann nicht mehr getan wird, was ihnen aber nicht egal sein sollte: die Priester, die das oft aus gutem Grund nicht wollen, werden sie wieder tun müssen, und - selbst wenn nicht - fehlt eine auf Vollzeitbasis anwesende Person im Pfarrbetrieb. Welche Rolle das spielen würde, das ist wahrscheinlich in jeder Pfarre unterschiedlich - jedenfalls ist es allerdings sehr häufig, dass die pastoralen Angestellten in der Pfarre die Rolle eines gesunden Korrektivs übernehmen. Es ist also zumindest vorstellbar, dass ihr Fehlen in der Pfarre neuerlich jenes ungebremste hierarchische Gefälle erzeugt, das früher zwischen Pfarrer und den Gemeindemitgliedern - vor allem den jüngsten darunter - stand. Mit "früher" meine ich im übrigen genau jene Zeit vor dem Konzil, in der sich ein Großteil der Missbrauchsfälle ereignet hat, von denen in den Medien dieser Tage die Rede ist. Ob das im Sinne der Kichenaustreterinnen und Kirchenaustreter wäre?
Warum nicht: "Jetzt erst recht!"?
Ein Teil der innerkirchlichen Probleme verdankt sich dem Umstand, dass kirchenkritische Gläubige zu leichtfertig der (Amts-)Kirche den Rücken zukehren, anstatt aktiv aufzutreten und sich als Kirche gehör zu verschaffen. Kirchenpolitisch sind diese Austrittswellen wahrscheinlich sogar ein wesentlicher Faktor für das konservative Bewahren eines Ist-Zustandes, auch wenn dieser schon längst nicht mehr tragbar und erträglich ist.
Es ist bequemer, auszutreten und zu schimpfen, als aufzustehen und etwas zu tun.
Donnerstag, 11. März 2010
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